Reviews | By Holger Adam / testcard #24: Bug Report. Digital war besser
Draußen vor der Tür: Field-Recordings und Sound-Art von Gruenrekorder
Man kommt ganz schön rum, wenn man sich die Veröffentlichungen des Frankfurter Labels Gruenrekorder anhört – zumindest mit den Ohren! Von Helgoland auf die Äußeren Hebriden, von dort aus über Alert Bay, Kanada in die wärmeren Gefilde der Kleinen Antillen (Guadeloupe und Dominica), dann weiter nach Kamerun und schließlich zu den Bayaka Pygmäen nach Zentralafrika! Mehrere tausend Kilometer in nur wenigen Stunden. Die Reise hält einige Überraschungen bereit und wirft viele Fragen auf, wie die danach, ob wohl die jeweils an den verschiedenen Orten Einheimischen, ihr Zuhause mit den Ohren erkennen würden, wenn man ihnen Aufnahmen, wie die vorliegenden, vorspielen würde? Eine Frage, die ich mit Blick auf meine zu erwartende Taubheit gegenüber der eigenen heimischen Klangkulisse eher verneinen würde. Ich würde sicherlich versagen, die Gegend akustisch zu erkennen, wenn man mir Field-Recordings aus den Regionen vorspielen würde, in denen ich lange gelebt habe oder noch lebe. Natürlich ist das nicht der Sinn, der sich mit diesen CD-Aufnahmen verbindet. Im Vordergrund steht eher die Musikalität der Außenwelt im Sinne einer sozusagen biologischen oder ökologischen Musique Concrète.
So kann ich dank LASSE-MARC RIEKS Helgoland-Aufnahmen dem Sand, der Brandung und dem Sturm auf der Nordseeinsel zuhören und einer Vielzahl von Vögeln wie dem Basstölpel, der Küstenseeschwalbe oder der Dreizehenmöwe, die alle auf Helgoland brüten und leben. Warum, womit und in welcher Weise Lasse-Marc Riek auf Helgoland gearbeitet hat, das erläutern Texte im Booklet zur CD, die zu lesen, sehr informativ ist, weil auch die Frage behandelt wird, worin denn eigentlich der künstlerische Aspekt von Field-Recordings besteht, wenn diese scheinbar nur Natur als Tonaufnahme dokumentieren? Ein Mikrophon in die Luft halten kann doch schließlich jeder! Wirklich? Mit einem eingebildeten Fischbrötchen in der Hand (auch so eine Frage: Macht die Musik der Nordseeküste Appetit auf Fisch?) verlasse ich Helgoland und reise weiter in den kalten Norden Europas.
Weit vor der Küste Schottlands liegen die Äußeren Hebriden, wo CATHY LANE The Hebrides Suite aufgenommen hat, und sogleich stellt sich die nächste Frage: Wird mir kalt, wenn ich Aufnahmen aus einer Gegend höre, in der das ganze Jahr über eher niedrige Temperaturen herrschen? Nach einer Decke zu fragen fiele mir schwer, denn die schottisch-gälische Sprache der Bewohner_innen der Inseln, die ebenfalls Teil der Aufnahmen ist, ist nicht ganz so leicht verständlich. Aber man würde ja bemerken, dass mich fröstelt, oder? Daher nichts wie raus aus dem nass-kalten Klima und ab in den Süden auf die Kleinen Antillen, und schon wärmt mich der Sound der Tropenvögel, die nachts aus dem Dschungel heraus vernehmbar sind. Ein wenig gruselt mich der Gedanke an das dunkel-grüne Dickicht allerdings auch. Daran ist natürlich nicht der Dschungel sondern mein durch Kulturindustrie verbildetes Bewusstsein schuld, drängt sich mir doch Werner Herzog mit seiner Rede über die Obszönität des Dschungels ins Ohr.
RODOLPHE ALEXIS’ Morne Diablotins (nach dem höchsten Berg der Insel Dominica benannt) schüchtert mich aber letztlich doch nicht ein. Im Gegenteil, die Aufnahmen sind sehr gut dazu geeignet, Stadtbewohner_innen ohne Balkon zumindest bei offenem Fenster und geschlossenen Augen zu suggerieren, sie säßen des Nachts auf einer Karibikinsel auf der Veranda: Es zirpt und ruft aus verschiedener Tiere Kehlen und insgesamt strahlen die Aufnahmen eine große Ruhe aus.
Überhaupt nicht ruhig scheint es in Kamerun zuzugehen, wohin CHRISTINA KUBISCH UND ECKEHARD GÜTHER reisten, um mit vielstimmigen Aufnahmen von Kirchenchören, Straßenszenen und anderen musikalischen Gelegenheiten, zurückzukehren. Natürlich (also wäre die Frage bereits beantwortet, inwiefern der akustische Eindruck schon bestehende Vorstellungen bestätigt?) hupen auf Mosaïque Mosaic hektisch immer wieder Fahrzeuge in die verschiedenen Klangbilder hinein. Ich frage mich also sogleich, inwiefern meine weißen Ohren, schwarzen Klischees auf den Leim gehen: Auto fahren sie wie die Henker, in Kamerun – aber sie haben gute Laune! Um jetzt einem Missverständnis vorzubeugen: Ich sage nicht, dass die Audio-Collage von Kubisch/Güther mit derart kolonialistischen Ohren zusammengestellt ist – es ist eher die Geschichte und die Prägung der eigenen Ohren und Hörgewohnheiten, die solche Aufnahmen auch thematisieren können – und nicht eindeutig beantworten. Denn wie anfangs erwähnt, ich weiß ja schon was ich anhören werde, bevor ich es höre, denn ich habe schon vorher die CD-Verpackung angeschaut und ein wenig in den beiliegenden Booklets geblättert. Ein Blind-Date mit all den vorgestellten Geräuschquellen führte eventuell zu überraschenden Ergebnissen, und plötzlich läge Kamerun in Oberbayern. Man sollte seinen Ohren also nicht zu sehr trauen! Aber man kann sehen bzw. hören, wie diese Aufnahmen zu allerlei Auseinandersetzung anregen! Es macht wirklich großen Spaß, diese CDs zu hören und sich mit den aufgeworfenen Fragen zu beschäftigen – wofür ich ja gar keine Muse hätte, würde ich tatsächlich den beschwerlichen Weg zu all diesen Orten auf mich nehmen!
Dokument einer Reise ist auch der Soundtrack zum Film Song From The Forest, der den Amerikaner LOUIS SARNO porträtiert, der seit dreißig Jahren in Zentralafrika bei den Bayaka Pygmäen lebt. Ursprünglich angelockt durch die Musik des indigenen Volkes, reiste er in den Dschungel, um Ton-Aufnahmen zu machen und blieb. Der Film von Michael Obert, den ich noch nicht kenne, erzählt die Geschichte von Sarno, seiner Leidenschaft für die Musik der Bayaka und seinem Sohn Samedi, den er im Alter von dreizehn Jahren mit in seine alte Heimat, nach New York City, nimmt. Zum Film kann ich hier nichts weiter sagen, aber der Soundtrack, bestehend aus Field-Recordings der Gesänge und Instrumente der Bayaka im Dschungel Zentralafrikas, macht neugierig darauf, ihn anzuschauen. Der Soundtrack funktioniert allerdings auch ohne Film, und lässt eigene Bilder im Kopf entstehen, so wie auch die anderen hier besprochenen Aufnahmen.
In Bild und Ton (und Schrift) ist HEIN SCHOERS The Sounding Museum: Box Of Treasures, das Ergebnis einer Klangforschungsreise nach Alert Bay in Kanada, dokumentiert. Ein Pappschuber enthält mit zwei DVDs und einer CD sowie einem knapp 400-seitigen Buch die multimediale Vollbedienung, um in die Welt von Alert Bay vor der Küste Vancouvers einzutauchen. Das Paket stellt eine Art audio-visuell anthropologische Studie dar, die eine Fülle von Material bereithält, dem ich kurz vor Redaktionsschluss nicht mehr Herr wurde, das aber zur weiteren Erkundung einlädt. Abschließend noch zu drei weiteren CDs, die sich aber nicht durch reine Field-Recordings auszeichnen, sondern die elektro-akustische Kompositionen beinhalten.
Aufnahmen unterschiedlicher Quellen hat DANIEL BLINKHORN im Studio bearbeitet und auch durch zusätzliche Instrumente bzw. Einspielungen von Gitarre, elektronischen Elementen und Klarinette ergänzt. Daraus resultiert die gut einstündige Komposition Terra Subfónica: 19 Tracks, die vom Klangbild her düster, schwebend und minimal gehalten sind. Nenn’ es „Geräusch-Musik“, „Neue Elektronische Musik“ oder etwas poppiger gefasst „Dark Ambient“, das ist egal. Die Musik ist stark genug, solche Etikettierungen auszuhalten.
Weiter geht’s mit MERZOURGA, einem Duo bestehend aus Janko Hanushevsky und Eva Pöpplein, das aus dem Berliner Phonogram Archiv Wachszylinder benutzen durfte, um die darauf enthalten Aufnahmen zu digitalisieren und zu einer elektro-akustischen Komposition zu verschmelzen. Mit wissenschaftlicher Akribie ist diese Zeitreise in die phonographische Vormoderne im Booklet festgehalten. Die Aufnahmen aus den Jahren von 1905 bis 1931 stammen aus allen Ecken der Welt, aus der Schweiz, Samoa, Ungarn, Ägypten, China etc. … Verzeichnet ist, soweit bekannt, wo sie aufgenommen wurden und wann, aber nicht von wem. Dass Janko Hanushevsky und Eva Pöpplein im Booklet den anonymen Urheber_innen der Töne, die sie verwendet haben, danken, kann nicht hoch genug bewertet werden. Es ist vor dem Hintergrund vieler Reissues mit so genannter ethnischer Musik, deren Urheber_innen nie gedankt wird, geschweige denn, dass sie dafür entlohnt wurden oder werden, mehr als eine forschungs-ethische Geste, zumindest zu bemerken, dass man sich Musik nur ausleiht und dafür bedankt, sie benutzen zu dürfen. Das Ergebnis auf 52°46’ North 13°29’ East. Music For Waxcylinders (die Koordinaten sind die des Museums, in dem die Zylinder aufbewahrt werden) ist die Aufnahme eines Live-Konzertes von Merzouga aus dem Jahr 2012, zu dem die Wachszylinder-Aufnahmen zusammen mit elektronischen Elementen (Eva Pöpplein) und dem elektrischem Bass von Janko Hanushevsky zu Aufführung kamen. Eine wundersam überzeitliche Aufnahme.
Abschließend noch eine Arbeit von Pauline Oliveros, Timothy Hill und David Rothenberg als CICADA DREAM BAND. Rothenbergs Bug Music (siehe Review in testcard 23), Field-Recordings von Insekten, bilden ein Element der Komposition, die durch Oliveros Akkordeon und Timothy Hills Stimme komplettiert wird. Rothenberg selbst spielt auch noch Klarinette. Im Ergebnis gibt es dann eine meditative Musik zu hören, die ebenso zirpt, wie sie sanft schwingt. Deep Listening mit Krabbeltierchen, gewissermaßen. Sehr schön.
Holger Adam (ha)
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